EuGH: Neues zum Durchrechnungszeitraum der Höchstarbeitszeit
Co-Autorinnen: Lisa-Maria Jobst, LL.M.; Theresa Weiss-Dorer, LL.M.
Neben den täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten sieht die Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) außerdem vor, dass innerhalb eines Zeitraums von 17 Wochen eine durchschnittliche Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche nicht überschritten werden darf. Strittig ist, ob dieser Durchrechnungszeitraum von 17 Wochen als „fester“ oder „flexibler“ („gleitender“) Zeitraum zu verstehen ist. Bei einem flexiblen Bezugszeitraum ist die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden im Durchschnitt in jedem beliebigen 17-Wochenzeitraum einzuhalten. Bei einem festen Bezugszeitraum hingegen wird vorab festgelegt, in welchem Zeitraum die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden im Durchschnitt einzuhalten ist; im nächsten 17-Wochenzeitraum erfolgt eine neue Berechnung.
In einer aktuellen Entscheidung (EuGH 11.4.2019, C-254/18, Syndicat des cadres de la sécurité intérieure gegen Premier ministre, Ministre de l’Intérieur sowie Ministre de l’Action et des Comptes publics) hat sich der EuGH nun mit der Methode der Berechnung des Durchrechnungszeitraumes der Höchstarbeitszeit befasst und kam zu dem Ergebnis, dass die Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) selbst grundsätzlich weder einen festen noch einen flexiblen Durchrechnungszeitraum festlegt. Der EuGH äußerte aber Bedenken, dass ein fester Bezugszeitraum unter bestimmten Umständen dazu führen kann, dass die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden überschritten wird.
Sachverhalt
Der vorliegende Fall wurde dem EuGH vom französischen Conseil d’État (Staatsrat) vorgelegt: im zugrundeliegenden Rechtsstreit ging es um den Bezugszeitraum zur Berechnung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit für Beamte im Dienst der Police Nationale. Das französische Recht legt spezielle Regelungen für Arbeits- und Ruhezeiten dieser Beamten fest und sieht ua vor, dass die wöchentliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum (einschließlich Überstunden) während eines Kalenderhalbjahres (dh 6 Monate) im Durchschnitt 48 Stunden nicht überschreiten darf (bei bestimmten Tätigkeiten, wie zB Wach- und Schließdienst, kann der Durchrechnungszeitraum von 17 Wochen auf bis zu sechs Monate verlängert werden). Die Gewerkschaft der Führungskräfte der inneren Sicherheit machte geltend, dass die Bestimmung gegen die Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) verstoße, weil zur Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit ein in Kalenderhalbjahren ausgedrückter Bezugszeitraum und nicht einer von sechs Monaten mit zeitlich flexiblem Beginn und Ende herangezogen werde.
Entscheidung des EuGH
Laut EuGH lässt sich die Frage, ob ein gleitender oder ein fester Durchrechnungszeitraum festgelegt werden soll, nicht aus dem Wortlaut, dem Kontext oder den Zielen der Regelung beantworten. Es steht den Mitgliedstaaten daher grundsätzlich frei, nach welcher Methode sie die Bezugszeiträume bestimmen, sofern die mit der Richtlinie verfolgten Ziele (Gewährleistung eines besseren Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer) eingehalten werden.
Der EuGH äußerte jedoch Bedenken, dass ein fester Bezugszeitraum einen Arbeitgeber dazu veranlassen kann, dem Arbeitnehmer während zwei aufeinanderfolgender fester Bezugszeiträume viel Arbeit zuzuweisen, wodurch im Durchschnitt die wöchentliche Höchstarbeitszeit überschritten wird (Anmerkung: dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer jeweils am Ende des ersten Durchrechnungszeitraumes und am Beginn des zweiten, darauffolgenden Durchrechnungszeitraumes mehr arbeitet: Im Ergebnis überschreitet der Arbeitnehmer im jeweiligen Durchrechnungszeitraum zwar nicht die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden; bei Anwendung eines gleitenden Durchrechnungszeitraumes aber schon). Eine derartige Situation kann laut EuGH jedoch nicht bei einem gleitenden Durchrechnungszeitraum eintreten, da hierbei die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit laufend neu berechnet wird.
Da Frankreich in dem vorliegenden Fall einerseits den gebotenen Spielraum der Richtlinie in Bezug auf die wöchentliche Arbeitszeit ausgeschöpft hat (48 Stunden) und andererseits den Bezugszeitraum für die Berechnung des Durchschnitts der wöchentlichen Höchstarbeitszeit auf sechs Monate verlängert hat, kann in diesem Fall nicht gewährleistet werden, dass die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden während jedes auf zwei aufeinanderfolgende feste Bezugszeiträume verteilten Sechsmonatszeitraums (dh wohl bei einer gleitenden Betrachtung) eingehalten wird.
Die Mitgliedstaaten müssen dem EuGH folgend entsprechende Mechanismen vorsehen, die bei einem festen Bezugszeitraum gewährleisten, dass die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden während jedes auf zwei aufeinanderfolgende feste Bezugszeiträume verteilten Sechsmonatszeitraums eingehalten wird.
Im Ergebnis: Keine eindeutige Antwort
Der EuGH lässt den Mitgliedstaaten die Berechnung des Durchrechnungszeitraumes grundsätzlich offen, sofern die Ziele der Richtlinie durch ausreichende Mechanismen eingehalten werden. Welche Mechanismen dies sind und wann diese ausreichen, um die Ziele der Richtlinie zu gewährleisten, bleibt jedoch offen. Grundsätzlich wird daher die Verwendung eines festen sowie eines gleitenden Durchrechnungszeitraumes zulässig sein, es kommt aber auf die jeweiligen Umstände an. Insgesamt war in der Entscheidung vor allem die Ausdehnung des Durchrechnungszeitraumes auf sechs Monate in Verbindung mit einem festen Durchrechnungszeitraum problematisch.
Aufgrund der Bedenken des EuGH in Zusammenhang mit festen Durchrechnungszeiträumen empfehlen wir die Anwendung eines gleitenden Durchrechnungszeitraumes. Wir empfehlen weiters, sofern möglich, entsprechende „Warnmechanismen“ bei Arbeitszeitaufzeichnungs-Tools vorzusehen, welche bei einer drohenden Überschreitung der 48-Stunden Grenze eine Meldung abgeben.
Eine abschließende Klärung durch die Rechtsprechung bleibt jedoch noch abzuwarten.